martes, 29 de octubre de 2019

VORLÄUFIGE NOTIZEN ZUR «ANARCHISCHEN» MASSENREVOLTE IN DER CHILENISCHE REGION.

Original: NOTAS PROVISIONALES EN TORNO A LA “ANÁRQUICA” REVUELTA DE MASAS QUE SACUDE A LA REGIÓN CHILENA


Am Freitag, den 18. Oktober, brach in der Stadt Santiago eine wilde Revolte aus. Am nächsten Tag hatte sie sich auf nahezu alle Städte des Landes ausgebreitet. Die Fahrpreiserhöhungen für Busse und U-Bahnen können nicht als einzige Auslöser für die Massenproteste betrachtet werden. Viel eher liegt die Wurzel des Konflikts in einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Leben im Kapitalismus. Dies führte dazu, dass eine riesige und unkontrollierte Bewegung auf die Bühne der Geschichte trat. Wir stimmen den Genoss*innen zu, die auf einem Flyer, der während der Revolte verteilt wurde, festhielten: «Nichts wird mehr so sein wie früher».

Positive Aspekte der antagonistischen Bewegung

- Das Erste, was wir hervorheben müssen, ist die spontane Verbreitung der Bewegung und ihre praktische Kritik an der Gesamtheit der kapitalistisch-neoliberalen Lebensweise: Enteignungen und solidarische Massenverteilung von Waren großer Kapitalist*innen (Supermärkte, Einkaufszentren, Apotheken, Banken usw.), Zerstörung der staatlichen Infrastruktur (Polizeistationen und weitere staatliche Institutionen), massive Ablehnung der repressiven Staatsorgane in einem «demokratischen» Kontext (Polizei, Kriminalpolizei und Militär) und eine intuitive und skizzenhafte Kritik an der Gesamtheit des kommodifizierten Lebens (es gibt keine konkrete «Forderung», man möchte «alles ändern»).

- Die ungeheure Dynamik, die von der proletarischen Jugend ausging, ist ebenfalls hervorzuheben. Insbesondere ihre programmatische Unnachgiebigkeit und ihre subversive Kampfbereitschaft.

- Die wilden Proteste richteten tatsächlich einen erheblichen Schaden an und bedrohten das Privateigentum der Großkapitalist*innen dieses Landes. Das war der eigentliche Grund für den Einsatz des Militärs. Die herrschende Klasse war entsetzt ob der Revolte.

- Ein weiterer Aspekt, den es hervorzuheben gilt, ist die Verbreitung von kleinen Gruppen, die während den Demonstrationen offensiv die Repressionsorgane des Staates angreifen und zugleich eine Form der Selbstverteidigung der Protestierenden sind. Solche Gruppen bildeten sich nicht nur im Zentrum der Stadt, sondern auch in den Randbezirken. Es gibt so etwas wie eine «diffuse proletarische Massengewalt», die sich inmitten der Barrikaden solidarisch koordiniert, was – zumindest bis jetzt – jede Art von Spezialisierung oder Professionalisierung der offensiven Selbstverteidigung überflüssig macht. Bisher war dies sehr effektiv.

- Der Bruch mit der alltäglichen Isolation und Atomisierung dieses Systems äußert sich in der spontanen Klassensolidarität und der sozialen Kommunikation, die allesamt die vorgefertigten Rollen innerhalb dieser Gesellschaft über Bord werfen.

- Trotz des «Ausnahmezustands», der Ausgangssperre und der Militärpräsenz auf den Straßen, hat das Proletariat keine Angst. Die Ausgangssperre wurde bisher überhaupt nicht respektiert und der Hass auf das Militär steigt kontinuierlich. Der Kampf geht trotz der brutalen Unterdrückung weiter. Dies, auch wenn die Repression eine bisher unbekannte Zahl ermordeter, gefolterter, verschwundener und inhaftierter Menschen hinterlassen hat. Zum Zeitpunkt dieses Schreibens wurde in vielen Regionen, darunter auch Hauptstadtregionen, angekündigt, dass die Ausgangssperre aufgrund des sozialen Drucks des Proletariats aufgehoben wird.

- Trotz aller Bemühungen des Staates, Maßnahmen zu ergreifen, um «etwas Normalität» einkehren zu lassen und der Verunglimpfung der Proteste seitens der Massenmedien, war es bisher unmöglich den Normalzustand wiederherzustellen. Unsere Klasse protestiert weiterhin täglich und dies ohne um Erlaubnis zu fragen – alle Demonstrationen waren «illegal».

- Der soziale Kampf ließ sich nicht durch die von den Medien hervorgebrachten spektakulären Bilderwelten irritieren: Das Proletariat hat erkannt, dass die wesentliche Funktion der Presse während eines solchen sozialen Konflikts darin besteht, die Fakten zu verzerren und ein Narrativ zu erstellen, das den Interessen der herrschenden Klasse entspricht – Journalist*innen entpuppten sich als «Sprecher*innen» des Kapitals.

- Die Bewegung errichtete im Rahmen der Revolte nach und nach in verschiedenen Gebieten eigene Strukturen des Kampfes. Dazu gehören selbstorganisierte Versammlungen von Nachbar*innen in verschiedenen Stadtvierteln und Gegenden. Es wird eine antikapitalistische Perspektive von unten aufgebaut, um dem prekarisierten Leben ein wenig entgegenzuwirken. Wir halten diese Strukturen der proletarischen Assoziation für wichtige Organe, um eine Gemeinschaft des Kampfes zu bilden. Sie drücken die Notwendigkeit der Selbsttätigkeit der Proletarier*innen aus, die darum gewillt sind autonom und unabhängig von äußeren Kräften zu agieren.

- Wichtige Sektoren des Proletariats haben die Reformvorschläge, mit denen die Regierung versucht das Feuer der Revolte zu löschen, kategorisch abgelehnt. Sie gelten als «unwürdige Krümel», was den Staat zumindest bis jetzt in eine verzwickte Lage bringt.

- Es gibt keine politische Kraft, die in der Lage wäre, sich als Führung der Proteste zu etablieren und einen Dialog mit der Regierung zu führen. Das verwirrt und beunruhigt die Bourgeoisie. Es ist eine Revolte ohne Anführer*innen. Daher das «anarchische» dieser Bewegung.

Die Widersprüche, die die revolutionären Minderheiten innerhalb der Bewegung bekämpfen müssen.

- Während den Massendemonstrationen am Freitag, den 25. Oktober, an denen nach offiziellen Angaben allein in der Stadt Santiago mehr als 1,5 Millionen Demonstrant*innen teilnahmen, gab es unzählige patriotische Appelle und Aufrufe zur nationalen Einheit. Die Klassenperspektive droht dadurch in den Hintergrund zu geraten. Man denke auch beispielsweise an die Zurschaustellung chilenischer Flaggen – die bisher in den Protesten nicht weit verbreitet waren – und an die festliche und pazifistische Atmosphäre, die den ganzen Tag über herrschte. Laut der Regierung eröffneten die Massendemonstrationen einen Weg «für die Zukunft und die Hoffnung».

- Bestimmte organisierte Sektoren der Arbeiter*innenbewegung, haben gezögert, an der Revolte teilzunehmen. Zum Beispiel die Bergarbeiter*innen des staatlichen Unternehmens CODELCO und die Gewerkschaften, die Teil der landesweiten Arbeitnehmer-Koordination (NO+AFP) sind. Doch die Gewerkschaft der Hafenarbeiter*innen von Chile (UPCH) und die kämpferische Gewerkschaft SINTEC aus dem Bausektor sind erfreuliche Ausnahmen.

- Die Gerüchte, die von der Presse und der Regierung verbreitet werden, stoßen in gewissen Gegenden auf Anklang. Zu den verbreitetsten Gerüchten gehört eine angebliche Welle von Plünderungen, die sich gegen Privathaushalte und kleine Unternehmen richtet. Auch wenn es tatsächlich zu solchen Vorfällen kam, handelt es sich um Einzelfälle. Die Angstmacherei materialisierte sich im Phänomen der Bürgerwehren, die mit gelben Westen durch die Quartiere marschieren, um die Nachbarschaft vor nicht existierenden Plünderungen zu schützen. Solche Entwicklungen sind gefährlich, weil sie der Nährboden für neofaschistische-ultrarechte Strömungen sind und weil sie Proletarier*innen gegeneinander ausspielen.

- Mitglieder*innen traditioneller Parteien und der «neuen Linken» – die dasselbe sind – versuchen in den Versammlungen und selbstorganisierten Rätestrukturen, sich als Repräsentant*innen der Bewegung zu inszenieren, um ihre politische Agenda durchzusetzen und in Verhandlungen mit dem Staat zu treten.

- Trotz der qualitativen Sprünge, die die flächendeckende Verbreitung der Bewegung mit sich brachte, ist es ihr nicht gelungen, den sozialen Konflikt als eine Klassenfrage zu verstehen. Dies ist eine enorme Schwäche der Bewegung, der man entgegentreten muss. Die verstärkte Identifikation mit der «Mittelklasse», die von einigen Sektoren des Proletariats während den Massendemonstrationen promoviert wurde, muss entschlossen kritisiert werden. Denn solche eine Identifikation wird, neben den Massenmedien, hauptsächlich von Parteien getragen, die die herrschende Ordnung aufrechterhalten wollen.

- Die Revolte führte uns vor Augen, dass die revolutionären Minderheiten desorganisiert und fragmentiert sind. Dennoch beteiligten sich viele Revolutionär*innen von Anfang an an der Bewegung und versuchten trotz begrenzter Mittel durch Aktionen und Agitation, ein wenig Orientierung in das ganze Chaos zu bringen. Die Linke und die Leninist*innen im Allgemeinen wollten sich nicht in die unkontrollierbare Revolte stürzen. Mehr noch: sie distanzierten sich von ihr und verurteilten die Plünderungen. Erst drei Tage nachdem die Revolte entfacht war, gingen sie auf die Straßen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, eine offene antikapitalistische Bewegung aufzubauen, die die radikalsten Sektoren der Klasse zusammenführt.

Vorläufige Perspektiven

Egal wie dieser Konflikt ausgeht, eins ist klar geworden: Die Revolte hat einen irreversiblen Bruch erzeugt, der unsere Klasse prägen wird. Was Tausende und Abertausende von Proletarier*innen – viele von ihnen ohne Erfahrung in sozialen Kämpfen – in diesen Tagen erlebt haben, kann nicht aus dem kämpferischen Gedächtnis unserer Klasse gelöscht werden. Diese Revolte bietet eine einzigartige Gelegenheit, die nicht vergeudet werden sollte. Es ist deutlich geworden, dass nur durch den sozialen Kampf konkrete Forderungen und Verbesserungen der Lebensbedingungen des Proletariats durchgesetzt werden können. Wir haben unsere eigene Stärke erkannt. Die flächendeckende Revolte trägt in sich die latente Möglichkeit einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft, eine Versöhnung der menschlichen Spezies mit sich selbst und ihrer natürlichen Umwelt. Diese Möglichkeit trat in diesen Tagen an die Oberfläche und zeigte deutlich, dass die Verachtung gegenüber der Bevölkerung, die von verschiedenen subversiven Gruppen seit geraumer Zeit verbreitet wurde, vollkommen abzulehnen ist. Man denke z. B. an Diskurse, die die gesamte Menschheit zum Krebsgeschwür erklärten oder beteuerten dass das Proletariat apathisch und tot sei.

Die Revolte zeigt: Das Proletariat ist nicht tot. Wir sind kein variables Kapital. Wir haben eine große Rolle bei der Aufhebung der kapitalistischen Welt zu spielen. Das hat sich in der Praxis gezeigt. Vorerst muss sich der Kampf auf der Straße und in den Versammlungen gegen den Sozialpakt richten, der nichts weiter ist als eine reformistische Rekuperation. Die Revolte stellte intuitiv die Grundlagen der kapitalistischen Sozialstruktur in Frage und dies kann nicht aus dem historischen Gedächtnis gelöscht werden. Wir wollen weiter, viel weiter gehen. Wir bewegen uns in Richtung Leben.

Einige Proletarier*innen im Kampf in der chilenischen Region.
Samstagmorgen, 26. Oktober
Subversiver Frühling 2019

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